Aktive Mobilität soll helfen, Wien klimafit zu machen. Was hinter dem Radwegenetz der Weltstadt steckt, verrät Radverkehrsexperte Martin Blum.
Bekannte Musterschüler in den internationalen Rankings der Radfahrcitys sind Kopenhagen, Amsterdam, Utrecht, Straßburg, Malmö, Bordeaux und sogar Tokio. Wien schaffte es 2019 immerhin im Copenhagenize Index unter die Top 10 der fahrradfreundlichsten Städte der Welt. Nachhaltige Mobilität ist jedenfalls ein Schlagwort, bei dem Wien den Vergleich nicht zu scheuen braucht. So ist ihr etwa Platz 6 im Sustainable Cities Mobility Index sicher. Martin Blum von der Mobilitätsagentur Wien: „In der Bundeshauptstadt gibt es ambitionierte Ziele für den Verkehrsbereich. Der Klimaschutz treibt dieses Thema an, sodass in Zukunft immer mehr Menschen die öffentlichen Verkehrsmittel nutzen und zu Fuß oder mit dem Fahrrad unterwegs sein werden. Das wirkt sich auch auf die Infrastrukturinvestitionen aus.“
Der Status quo ist schnell erhoben: Wien besitzt ein Radverkehrsnetz von mehr als 1400 Kilometern, das aus herkömmlichen Radwegen, Mehrzweckstreifen, aber auch Radspuren in Einbahnen besteht. Der Anteil des Radverkehrs am Gesamtverkehrsaufkommen beträgt dennoch nur dreizehn Prozent. Sieht man sich die Sache genauer an, so sind lediglich 160 Kilometer baulich getrennt. Die weltweite Nummer eins – Kopenhagen – verzeichnet 400 „echte“, räumlich von der Fahrbahn getrennte und somit sichere Radwegekilometer und einen Anteil des Radverkehrs am Gesamtverkehr von 65 Prozent.
Zurück zu den Investitionen: „Ziel in den nächsten Jahren ist es, die Investitionen in die Radfahrwege zu vervierfachen. Künftig sollen jährlich 27 Millionen Euro für den Radverkehr aufgewendet werden“, so Blum über die deutliche Erhöhung des bisherigen Volumens. Internationale Benchmarks zeigten, wie viel Geld pro Einwohner für den Radverkehr ausgegeben werde. Mit diesem hohen Betrag sei Wien international im guten Mittelfeld. Parallel dazu sollen die Wiener Straßen klimafit werden und mehr Grün in die Weltstadt einziehen. Die erhoffte Klimaresilienz bedeutet viel Umgestaltung; eine Chance auch für die Wiener Radwege.
Kurze Wege erlangen im urbanen Wien eine hohe Bedeutung. Vieles liegt in Geh- oder Raddistanz. Gesamt gesehen wird aber nur ein Drittel der Wege von Wienern „aktiv“ zurückgelegt. „Wie man täglich unterwegs ist, entspricht dem eingeprägten Verhalten. Hier braucht es viel Bewusstseinsbildung. Wir begleiten diesen Wandel der Stadt“, gibt Blum Einblicke in die herausfordernde Aufgabe, liebgewonnene Routinen zu durchbrechen. Der Weg dahin ist mühsam: „Die Straßenflächen sind ein knappes Gut. Wenn dem Fahrrad mehr Platz eingeräumt wird, steht anderen Verkehrsmitteln weniger Raum zur Verfügung. Parkplätze werden weggenommen, breitere Gehsteige ermöglicht. Das führt naturgemäß zu Konflikten.“ Im niederländischen Utrecht gibt man sich besonders ambitioniert: Hier werden derzeit die Fahrradparkplätze am Hauptbahnhof von 12 000 auf 33 000 aufgestockt. „Es braucht also ein neues Bild, wie eine Stadt sein soll“, meint der Experte.
Das Wiener Projekt der „Pop-up-Radwege“ wurde infolge Coronas beschleunigt. So wurden die temporären Radspuren in der Praterstraße, Lassallestraße und Wagramer Straße bis in den Herbst 2020 verlängert. Denn der Radboom entwickelt sich mit einer Steigerung von 14,7 Prozent im dreijährigen Durchschnittswert auch in Wien dynamisch. Um mehr Platz fürs Radfahren zu schaffen, wurden im Frühjahr Pkw-Spuren in temporäre Radwege umgewandelt. Eine große Chance sieht Blum in der Errichtung von Verkehrsberuhigungsmaßnahmen wie dem Radwegebau. Damit würden mehr Arbeitsplätze geschaffen als mit dem Bau von Autobahnen. „Straßen, die keine Angsträume sind, auf denen man sich gerne bewegt oder aufhält, schaffen Beschäftigung. Davon profitiert nicht nur die Bauwirtschaft, sondern auch der Handel und alle anderen Branchen“, ist Blum überzeugt.
Auch wenn Wien 2019 vom internationalen Beratungsunternehmen Mercer unter 231 Metropolen weltweit zum zehnten Mal in Folge zur lebenswertesten Stadt gekrönt wurde, so hat Österreichs Bundeshauptstadt in Sachen Mobilität und Radverkehr nach wie vor Luft nach oben. In Kopenhagen gibt es etwa Radschnellstraßen. Ohne Unterbrechung kommt man da mehrspurig mit dem Fahrrad voran. Wien hat das (noch) nicht.