Rote Rücklichter flammen auf, Warnblinkanlagen irrlichtern, Abstandswarner piepsen: Stau. Der Stillstand auf der Straße nervt nicht nur die Autofahrer, er kostet auch Zeit und viele Milliarden Euro. Sollte man das Geld nicht lieber in die Flüssigkeit des Verkehrs investieren, den Verkehrsteilnehmern und der Umwelt zuliebe? Eine Annäherung.
Fünfundzwanzig Stunden – mehr als einen ganzen Tag – verbringen Österreichs Autofahrer jedes Jahr im Stau. Das gilt aber nur für den Durchschnitt: Wer im Raum Wien täglich berufspendelt, verbringt vier Tage und sechzehn Stunden (28 Prozent mehr als bei fließendem Verkehr) zusätzlich im Auto, auf den Plätzen folgen Salzburg (27 Prozent) und Graz (26 Prozent). Dennoch dürfen wir uns glücklich schätzen, liegen wir doch auf dem komfortablen 10. Platz in Europa. An der Spitze des Kontinents liegt Russland mit 42 Staustunden pro Jahr. Das ist aber noch gar nichts gegen den ewigen Besten in dieser Disziplin: In Los Angeles stehen die Autofahrer durchschnittlich 104 Stunden pro Jahr – das sind viereinhalb Tage – im Stau; das kommt davon, wenn zwölf Millionen Menschen mit dem Auto zur Arbeit fahren. Deutsche Autofahrer verbringen im bundesweiten Durchschnitt mehr als 46 Stunden im Stau. Am mühsamsten kommen sie in München voran – sie verloren im vergangenen Jahr insgesamt 87 Stunden in Staus. Auf den Plätzen zwei und drei folgen Berlin mit 66 und Düsseldorf mit 50 Staustunden.
Die sinnlose Warterei ist nicht nur nervenaufreibend, sondern auch ausgesprochen teuer. Mit bis sechs Milliarden Euro schlagen Staus laut einer Studie des Instituts für Transportmanagement und Logistik der Wirtschaftsuniversität Wien (2015) allein in Österreich jährlich zu Buche. Wie der Verkehrsinformationsanbieter INRIX jährlich ausrechnet, fielen in München 2019 durch den Zeitverlust Kosten in Höhe von 774 Euro pro Autofahrer an, das entspricht nur in der bayerischen Hauptstadt bis zu 405 Millionen Euro im Jahr. In Großbritannien schätzt man die Staukosten auf mehr als 30 Milliarden britische Pfund. Und beim Spitzenreiter Los Angeles – siehe oben – kostet der mobile Stillstand pro Jahr neun Milliarden Dollar.
Dabei geht es nicht nur um volkswirtschaftliche, sondern auch um Umweltschäden. Schon 2014 kam eine nun wieder heftig diskutierte Studie des Londoner Centre for Economics and Business Research zu dem Ergebnis, dass pro Jahr rund 1,2 Milliarden Liter Sprit sinnlos aus den Auspuffen geblasen werden – nur in deutschen Staus, wohlgemerkt. Dazu kommt weiterer Verbrauch durch Ausweichrouten und Umwegfahrten. Die unerfreuliche Prognose der Londoner Forscher: Bis zum Jahr 2030 würden sich in Deutschland die volkswirtschaftlichen Kosten durch Staus auf gigantische 520 Milliarden Euro summieren.
Aber wenn doch die volkswirtschaftlichen Kosten des Staus so hoch sind, warum geht das mit den Baustellen nicht schneller? Verlassene Baustellen an neuralgischen Stellen treiben Autofahrern abends und am Wochenende regelmäßig die Zornesader auf die Stirn. Dem steht gegenüber, dass es in der Stadt schon aus Rücksicht auf die Anrainer meist undenkbar ist, Tag und Nacht zu bauen. Und in anderen Fällen kommt das Kostenargument zum Tragen: „Wird auf einer Straßenbaustelle 24 Stunden durchgearbeitet, kostet das um bis zu fünfzig Prozent mehr“, meinen Straßenbauexperten. Mit einem festgesetzten Budgetrahmen könnten dann entsprechend weniger Projekte abgewickelt werden – mit Rücksicht auf den Zustand der Straßen in Österreich auch keine Option.
Warum also die ansonsten verstauten Milliarden nicht gleich in mehr und bessere Straßen investieren? In einer Zeit, in der verbrennungsmotorisierter Individualverkehr nicht ganz oben auf der politischen Hitliste steht, sind solche Ansinnen schwierig umzusetzen. Denn wo Straßen sind, ist auch Verkehr: Höhere Kapazität sorge erfahrungsgemäß nicht nur für Stausicherheit und Fahrkomfort, sondern ziehe auch zusätzliche Autos an, halten Umweltschützer dagegen. Logisch erscheint das insbesondere dann, wenn parallel zum Ausbau des hochrangigen Straßennetzes ein Rückbau des niederrangigen Straßennetzes erfolgt und dieses damit als Ausweichmöglichkeit nichtmehr zur Verfügung steht.
Die allermeisten Staus entstehen durch Engpässe infolge von Unfällen oder Sanierungsmaßnahmen; wer die Kapazität erhöht, hat mehr Reserven, wenn es eng wird. Für die Autofahrerklubs liegt die Lösung des Problems damit auf der Hand: Nur mit einem massiven Ausbau des Straßennetzes lasse sich der Verkehrsinfarkt beheben. Von der beliebten These, dass mehr Straßen auch mehr Verkehr bedeuten, halten diese Experten wenig; sie vermuten hinter vorgehaltener Hand, die Verkehrspolitik wolle damit lediglich vom eigenen Versagen ablenken. Die Anzahl der Menschen, die signifikant mehr Auto fahren, weil es mehr und bessere Straßen gibt, sei verschwindend gering im Vergleich zu jenen, die fahren müssen, aber nicht können, weil nichts mehr geht.“
Über die Verhinderung von Staus zerbrechen sich Verkehrsexperten seit Jahrzehnten den Kopf. Vielleicht kommt nun der Klimawandel den geplagten Autofahrern zu Hilfe: Sollte es – nach jahrzehntelangen Diskussionen – doch gelingen, einen größeren Teil des Schwerlastverkehrs auf die Schiene zu übersiedeln, könnte für andere Straßenbenutzer mehr Platz sein. Was es dafür brauchen würde, ist ein rascher und international abgestimmter Ausbau von Hochleistungsbahnstrecken für den Güter- und Personenverkehr auf wettbewerbsfähigen Gleisen. Gleichzeitig braucht es Investitionen insbesondere in das niederrangige und regionale Straßennetz. Vielleicht eröffnet auch die Digitalisierung völlig neue Perspektiven des entspannten Pendelns, vom staufrei gesteuerten Blechschwarm bis zum selbstfahrenden Auto, in dem man beim Kaffee gemütlich diese Zeitung liest.
Vom Wesen des Staus
In den Verkehrswissenschaften gibt es sogar eine eigene Disziplin, die sich mit dem Phänomen der Straßenthrombose beschäftigt: die Stauforschung. Wenn sich die Wissenschaft einer Frage annimmt, wird es unweigerlich komplex: Zu den statischen Staufaktoren – die Kapazität einer Autobahnspur beträgt etwa 1500 bis 2500 Fahrzeuge pro Stunde, darüber wird’s eng – kommen variable (z.B. der Fahrbahnzustand, das Wetter etc.), punktuelle (Baustellen …) und psychologische (vom Verhalten der Autofahrer abhängige) Staufaktoren.
Der letzte Punkt ist der geheimnisvollste. „Stau aus dem Nichts“ nennen die Experten Situationen, in denen nichts mehr geht, und keiner weiß warum: Der Phantomstau ist eines der bekanntesten Beispiele dafür, wie das Fahrverhalten selbst den Stau produziert, ganz ohne Zutun von Baustellen, Unfällen oder Überlastung. Zu den häufigsten stauverursachenden Verhaltensweisen zählen der häufige Spurwechsel, Drängeln und dichtes Auffahren, die – jederzeit beobachtbare – Missachtung des Rechtsfahrgebots, schlichte Unaufmerksamkeit, der Verzicht auf das Reißverschlusssystem („den lass ich jetzt aber sicher nicht herein …“) sowie Schaulust und Gaffen, bevorzugt bei Unfällen auf der anderen Richtungsfahrbahn.
Zum Beispiel: Ein Pkw wechselt von der mittleren auf die linke Spur, um ein vor ihm fahrendes Auto zu überholen. Ein paar bereits links flott fahrende Pkw müssen bremsen, um nicht aufzufahren oder um Sicherheitsabstände einzuhalten. Dieser Bremseffekt setzt sich jetzt nach hinten fort, verstärkt sich aber: Jedes weitere Fahrzeug bremst ein wenig mehr, bis ganz am Ende das erste Auto stehen bleibt: Der Stau aus dem Nichts ist da, während der eigentliche Verursacher schon weit weg ist und gar nichts von der Kettenreaktion bemerkt, die er ausgelöst hat. Die ersten fahren jetzt schon wieder an, aber es dauert ein, zwei Sekunden – und so zieht der Stau mit fünfzehn Stundenkilometern gegen die Fahrtrichtung, obwohl es gar keinen wirklichen Grund für den Halt gegeben hat.
TIPPS FÜR DEN STAU
Denken Sie an die Bildung einer Rettungsgasse, damit Einsatzfahrzeuge einen eventuellen Unfallort schnell erreichen können. Wissen Sie noch, wie’s geht? Ganz einfach: Fahren Sie auf der linken Spur, dann weichen Sie nach links aus. Auf allen anderen Spuren halten Sie sich rechts. Wenn Sie sich einem Stauende nähern, schalten Sie die Warnblinkanlage ein, um die hinter Ihnen Fahrenden auf die Gefahr hinzuweisen. Bremsen Sie, wenn möglich, nicht abrupt, behalten Sie den nachfolgenden Verkehr im Auge und lassen Sie einen Sicherheitsabstand von mindestens einer Wagenlänge zum Vordermann, damit Sie notfalls noch ausweichen können.
Schalten Sie den Verkehrsfunk ein, damit Sie über die weiteren Abläufe informiert werden können. Wenn es (endlich) weitergeht, nehmen Sie gleichmäßig Fahrt auf und vermeiden Sie unnötige Brems- und Beschleunigungsvorgänge oder das beliebte Kolonnenspringen: Denn das könnte schon den nächsten Stau auslösen.