Ungarns Botschafter Andor Nagy im Interview anlässlich dreißig Jahre SWIETELSKY in Ungarn
SWIETELSKY zögerte nach der Wende nicht lange und gründete bereits 1991 eine Niederlassung in Ungarn. Daraus ist heute eine dreißigjährige Erfolgsgeschichte geworden. Wir haben dieses Jubiläum zum Anlass genommen, den Botschafter Ungarns in Wien, SE Dr. Andor Nagy, um ein Interview zu bitten. Nach einem freundlichen Empfang und einer Führung durch das beeindruckende Palais der Botschaft in der Wiener Bankgasse sprachen wir über die Handelsbeziehungen beider Länder, die ungarische Wirtschaftsentwicklung, die Potenziale von Ungarns Bauindustrie, aber auch über eine, wie der Botschafter sie selbst nennt, „andere Vorstellung von der Zukunft Europas“, die das offizielle Ungarn so streitbar auf internationaler Ebene vertritt.
Herr Botschafter, österreichische Nachrichten aus Ungarn haben sehr oft wahlweise etwas mit Migranten, LGBTQ-Anliegen oder Rechtsstaatsdebatten zu tun. Viel weniger ist über die Wirtschaftsentwicklung bekannt. 2019 betrug die BIP-Wachstumsrate 4,9 Prozent. Die Staatsverschuldung ist in den letzten zehn Jahren (vor Corona) von achtzig auf rund 67 Prozent gefallen. Verraten Sie uns Ihr Rezept?
Die Jahre 2013 bis 2020 gelten in der Tat als Erfolgsgeschichte. In den letzten hundert Jahren ist nämlich kein Jahrzehnt in Ungarn so gut gelaufen. Lassen Sie mich dazu einen internationalen Vergleich ins Treffen führen: Zwischen 2015 und 2019 stieg das Bruttoinlandsprodukt (BIP) in Ungarn pro Kopf um 39,65 Prozent, Deutschland wuchs um 13,3 Prozent und Frankreich um 10,1 Prozent. Sie fragen nach dem Rezept dafür. Seit 2010 wird das Land von Viktor Orbán und seiner Regierung geführt. Wenn man so lange regieren darf und noch dazu dreimal mit Zweidrittelmehrheit wiedergewählt wird, verleiht das einer Regierung politische Stabilität, Berechenbarkeit und Vertrauen. Alles, was in den erwähnten Jahren passiert ist, läuft nach einem wohldurchdachten Plan ab. Diese Strategie der Orbán-Regierung umfasst den langen Zeitraum von 2010 bis 2030 und hat das Ziel, Ungarn bis 2030 unter die fünf besten EU-Mitgliedstaaten hinsichtlich Wohnen, Leben und Arbeiten zu bringen. Zu Beginn der Regierungsarbeit im Jahr 2010 war Krisenmanagement angesagt, aber das Ziel war nicht, das Land in eine bessere Zeit vor der Krise zurückzuführen, sondern die Grundlagen für eine ganz neue Wirtschaftsstruktur zu schaffen. Wir haben nämlich damals festgestellt, dass die finanzielle Krise 2008/2009 nicht eine gewöhnliche Krise war, sondern ein Signal für eine neue Weltordnung, die vor uns auf der Schwelle lag. Alles hatte sich verändert. Die Aufgabe war also, das Land auf diese neue Weltordnung vorzubereiten. Und das ist passiert: Ein neues Steuersystem – vierzehn Prozent Einkommensteuer, Flat Tax für alle, mit neun Prozent die niedrigste Körperschaftssteuer in ganz Europa –, eine neue Finanzpolitik, eine neue Verfassung, eine neue Familienpolitik und auch eine neue Arbeitsmoral. In der neuen Ära muss jeder arbeiten, Sozialhilfe bekommt nur, wer gearbeitet hat. Es klingt hart, aber wir haben alles auf die Arbeit gesetzt. Heute arbeiten um 800 000 Menschen mehr als vor acht Jahren. In der neuen Ära ist eine hohe Staatsverschuldung nicht angebracht. Unsere Staatsschuldenquote liegt siebzehn Prozentpunkte unter dem Durchschnitt des Euroraums, während die Löhne, für die wir 2010 zwölf Monate lang arbeiten mussten, heuer in nur acht Monaten ausbezahlt werden können. Sie sehen, wir haben die ersten Schritte unternommen.
Unsere Länder verbindet eine gemeinsame Geschichte, tiefe Sympathie und intensive Beziehungen. Trotzdem scheint es seit einigen Jahren Verständigungsprobleme zwischen dem offiziellen Ungarn einerseits und seinen westlichen EU-Partnern andererseits zu geben. Wir erinnern uns an gesellschaftspolitische Kontroversen, aber auch an wirtschaftspolitische Maßnahmen Ungarns, die mitunter im Westen als protektionistisch kritisiert wurden. Wie wichtig sind „Foreign Direct Investments“ für Ungarn, auch in Bezug auf mittelgroße Unternehmen?
Die österreichischen Nachbarn nennt man bei uns „die Schwager“. Das ergibt sich aus unserer jahrhundertlangen gemeinsamen Geschichte. Österreich ist immer noch ein strategischer Partner für Ungarn. Die Direktinvestitionen, die Sie ansprechen, sind für die ungarische Wirtschaft notwendig und ein wesentlicher Treiber. Deshalb gibt es hohe finanzielle Förderungen für ausländische Direktinvestitionen mit einer Intensität von bis zu fünfzig Prozent. Ungarn fördert diese Investitionen insbesondere dann sehr kräftig, wenn sie während der Pandemie getätigt werden. In diesem Jahr beträgt die größte ausländische Direktinvestition etwa 185 Millionen Euro. Ein gutes Beispiel ist eine chinesische Großinvestition der Firma Shenzen Kidali in eine Lithium-Autobatterie- Fabrik. Das ist zwar noch nicht die Gigafactory von Tesla-Inhaber Elon Musk in Deutschland, aber Ungarn ist mittlerweile dank der chinesischen und südkoreanischen Investitionen als einer der größten Batteriehersteller Europas eingestuft. Aber nicht nur große, sondern auch mittlere und kleinere Investitionen heißt Ungarn herzlich willkommen. Was Protektionismus betrifft, verhält sich Ungarn nicht anders als unsere Partner in der EU. Alle Unternehmen, auch jene in ausländischem Eigentum, haben gleichberechtigten Zugang zu staatlichen Förderungen. Viele ausländische Firmen, darunter auch österreichische, nehmen mit Erfolg an öffentlichen Ausschreibungen teil. Vergessen wir nicht, dass Ungarn weltweit der achtgrößte Exportmarkt Österreichs ist und umgekehrt Österreich nach Deutschland zweitgrößter Handelspartner von Ungarn. Gleichzeitig ist Österreich der drittgrößte Investor in Ungarn. Das verleiht Österreich eine strategisch bedeutsame Rolle für Ungarn.
Die öffentliche Diskussion über wirtschaftlichen Protektionismus entzündete sich insbesondere an hohen ungarischen Steuern für Banken und Handelsunternehmen, die – so der damalige Vorwurf – auf ausländische Unternehmen abzielten.
Diese Steuern wurden in einer Zeit eingeführt, als es darum ging, die akute Finanzkrise Ungarns zu lösen. Es handelte sich um Krisensteuern, die zum Zweck einer sozial verträglichen Budgetkonsolidierung erhoben wurden. Mittlerweile wurde die Bankenabgabe wieder zurückgeführt und heute ist der ungarische Staat auf Betreiben von Generaldirektor Andreas Treichl sogar an der Ungarn-Tochter der Erste Group beteiligt. Damit ist gewährleistet, dass sich der Bankensektor in Ungarn wieder profitabel und expansiv entwickeln kann, was im Interesse beider Länder ist.
In Zeiten des Brexits und politischer Spannungen zwischen Ost- und Westeuropa versucht sich die österreichische Bundesregierung als Brückenbauer. Kann sich Österreich hier diplomatisch nützlich machen oder verfügt Ungarn beispielsweise im Verbund mit der Visegrád-Gruppe längst über andere Kanäle, um seinen Einfluss in Europa direkt geltend zu machen?
Die Spannung zwischen Ost und West, zwischen Ossis und Wessis bleibt noch eine Weile vorhanden. Das ergibt sich aus der unterschiedlichen Kultur, Mentalität und Geschichte. Bei Ihnen im Westen waren die Sowjets nicht 45 Jahre zu Gast. Das hat für unsere Gesellschaften im Osten eine Isolierung mit sich gebracht. Nicht nur die Demokratie und die freie Marktwirtschaft sind damals verschwunden, sondern es hat sich eine ganz andere Mentalität etabliert. Das ist nur jenen bewusst, die es in Osteuropa miterlebt haben. In dieser Hinsicht kann Österreich schon eine Brückenrolle spielen. Es hat mehr Einfühlungsvermögen dafür, einerseits wegen der gemeinsamen Geschichte in der früheren Monarchie, andererseits wegen zehnjähriger sowjetischer Besatzungserfahrung in Ostösterreich. Die V4-Gruppe (Anm.: Visegrád-Gruppe) ist ein wichtiges Bündnis in Europa. Es wurde ursprünglich für die NATO- und EU-Beitritte der vier Länder Polen, Tschechien, Slowakei und Ungarn gegründet. Die „V4 + Österreich“-Beziehung ist aber auch gut. Österreich ist ein wertvoller Partner der V4- Gruppe. Das Land grenzt an Mitgliedstaaten, aber nicht nur die geografische Lage, sondern auch viele gemeinsame Themen verbinden uns miteinander. Die Visegrád-Gruppe ist mit einem Handelsvolumen von insgesamt rund 37 Milliarden Euro nach Deutschland der weltweit zweitwichtigste Handelspartner Österreichs. Viele Jobs in Österreich hängen von einer guten Entwicklung in diesen Ländern ab. Deswegen denke ich, dass alle Seiten von einer engen Verbindung profitieren können. Auch die EU selbst profitiert von der Kooperation. Diese Art der Binnenorganisation innerhalb der EU ermöglicht, effizient zu handeln und auch durch die geografische Nähe zueinander den jeweils anderen besser zu verstehen. Die Zusammenarbeit zwischen den mitteleuropäischen Ländern ist keine Theorie, sondern praktische Realität. Insbesondere während der Pandemie haben sich diese Länder gegenseitig vorbildlich geholfen. Unter den wichtigsten gemeinsamen Themen sind der wirtschaftliche Aufschwung, die Investitionsförderung durch Steuersenkungen sowie die Schaffung neuer Märkte durch die EU-Erweiterung auf dem Westbalkan.
Der ungarische Parlamentspräsident und Fidesz-Politiker Laszlo Köver wurde kürzlich in den Medien damit zitiert, dass sich die EU zu viel in Ungarn einmische. Wenn die EU Ungarn mit Diktaten regulieren wolle, müsse sich Ungarn überlegen, wie es sich langsam und vorsichtig zurückziehen kann“, so Köver. Sie verstehen sicher, dass viele internationale Unternehmen einen Rückzug Ungarns aus der EU sehr bedauern würden. Wie wahrscheinlich ist also der HUXIT?
Der HUXIT ist nicht auf der Tagesordnung. Seit 2004 ist Ungarn nach 45 Jahren kommunistischer Herrschaft wieder dort, wo wir uns schon immer zugehörig gefühlt haben, nämlich in der europäischen Wertegemeinschaft. Ungarn ist und bleibt in der EU, solange die EU existiert. Für die Modernisierung des Landes ist die EU-Mitgliedschaft unentbehrlich und der Modernisierungsprozess ist bei Weitem nicht vollendet. Wir sind aber ein Volk der Freiheitskämpfer. Das waren wir während der ungarischen Revolution von 1848 bis 1849, 1956 während der Revolution gegen die kommunistische Herrschaft und auch vor der Wende 1989. Wir sind kritisch gegenüber manchen Positionen der Europäischen Kommission, denn wir haben eine andere Vorstellung von der Zukunft Europas. Eine EU starker Mitgliedstaaten ist aus unserer Sicht ein besseres Konzept als die „Vereinigten Staaten von Europa“. Dass wir eine andere Meinung vertreten, sollte toleriert werden. Kritisch zu sein bedeutet nicht, dass man austreten will. 81 Prozent der Ungarn sind laut Meinungsumfragen für die EU-Mitgliedschaft, also eine klare und größere Mehrheit als in manch alten EU-Mitgliedstaaten. Unsere Mission ist, die EU zu verbessern. Die EU ist immer noch ein wirtschaftlicher Riese, der viel Potenzial hat, aber mittlerweile ein politischer Zwerg geworden ist, der schrittweise seine geopolitische Effektivität verliert. Fakt ist, dass die USA, China und Russland einen größeren geopolitischen Einfluss auf das Weltgeschehen haben als die EU.
Viele Unternehmen in Österreich und Deutschland beklagen einen Mangel an qualifizierten Fachkräften, der sich durch zu niedrige Geburtenraten und einen Wandel in Bezug auf die benötigten Qualifikationen zunehmend verschärft (Stichwort Digitalisierung). So mancher sieht die Lösung vorwiegend in der Migration. Wie gedenkt das betont migrationskritische Ungarn mit dieser Herausforderung umzugehen?
Viktor Orbán hat seit 2015 eine sehr markante Position zur illegalen Migration. Er hat einmal gesagt, ich zitiere: „Ich bin überzeugt, dass Migration in absehbarer Zukunft zum Zerfall der Nationen und der Nationalstaaten führen wird. Nationalsprachen werden geschwächt, Grenzen verschwinden und Volkskulturen werden aufgelöst. Nur eine offene Gesellschaft bleibt übrig. Schließlich geht die Vereinigung der europäischen Gesellschaften mit der Schaffung einer europäischen Einheitsregierung einher. Das ist das Schicksal, das diejenigen erwartet, die sich nicht gegen Migration wehren. Ungarn will nicht diesen Weg beschreiten“, so Orbán. Es gibt kein einziges EU-Land, wo die Zahl der Neugeborenen allein ausreichend wäre, die eigene Gesellschaft zu reproduzieren. Wir alle hier in Europa leiden unter den demografischen Herausforderungen. Man muss für diese Problematik eine Lösung finden. Für Wirtschaftswachstum braucht es nämlich Arbeitskraft. Viele Länder möchten diese Situation durch Zuwanderung lösen. Da hilft die Migration. Jeder hat das Recht, so zu denken. Wir Ungarn wollen aber eine Alternative anbieten. Und das ist die Familienpolitik. Wir geben mittlerweile fast fünf Prozent des Bruttoinlandsproduktes für Familien aus. Das ist in der EU einmalig. Kein anderes Land unterstützt die Familien mit so vielen Maßnahmen wie die Orbán- Regierung. In Ungarn ist die Familie das Fundament der Gesellschaft. Es gibt unzählige Maßnahmen, die nicht nur die Familienwerte, sondern auch die Familiengründung unterstützen und traditionelle Familien schützen, um jedem Bürger eine Chance zu geben, eine glückliche Familie zu gründen. Jede Ungarin bis zum Alter von vierzig Jahren erhält bei ihrer ersten Heirat eine staatliche Aussteuer in Form eines Kredits über zehn Millionen Forint (etwa 31 000 Euro) zur freien Verfügung. Das ist in Ungarn ziemlich viel Geld und entspricht mehr als dem Dreifachen eines durchschnittlichen Nettojahresgehalts. Bei der Geburt des ersten Kindes kann die Rückzahlung drei Jahre lang ausgesetzt werden, beim zweiten Kind wird ein Drittel der Kreditsumme und beim dritten Kind der gesamte Kredit erlassen. Zudem gibt es in Ungarn günstige Kredite für den Immobilienerwerb, deren Höhe von der Anzahl der Kinder abhängt. Auch der Erwerb eines mindestens siebensitzigen Wagens soll für Familien ab drei Kindern durch einen Zuschuss in Höhe von 2,5 Millionen Forint (knapp 7700 Euro) erleichtert werden. „Es hat keinen Sinn, die Zukunft ohne Kinder zu planen“, sagte einmal Ministerpräsident Viktor Orbán. Die Frage der Demografie ist nicht irgendeines von vielen Problemen, die gelöst werden müssen, sondern das wichtigste gemeinsame Problem für uns. Unsere geschaffene Welt zu erhalten bedeutet auch, unser Zuhause, unsere Heimat und unsere Kultur für zukünftige Generationen zu bewahren.
Das könnte eine mögliche Antwort auf das Problem der Demografie sein, aber inwiefern ist die Familienpolitik auch ein bildungspolitischer Beitrag, um den ungarischen Arbeitsmarkt fit für die Zukunft zu machen?
Funktionierende Familien sind eine wichtige Voraussetzung für eine positive Entwicklung junger Menschen. Für die Übertragung der Lebenserfahrungen älterer Generationen, die Gewährleistung der physischen und moralischen Gesundheit von Kindern sowie ihrer gedeihlichen Entwicklung braucht es Familien, die finanziell ausreichend stark sind. Das alles fördert einen gesunden, nachhaltigen und bewussten Lebensweg. Schließlich lernen wir die wichtigsten Werte für ein erfolgreiches Leben auch in der Familie. Für mich zählen daher auch Familienleistungen zu den bildungspolitischen Initiativen.
Österreich ist traditionell sehr stolz auf sein duales Ausbildungssystem. Die meisten Experten hierzulande gehen davon aus, dass die Lehrausbildung von jungen Menschen einen signifikanten Effekt auf Wachstum und Innovationsfähigkeit der Wirtschaft hat. Dennoch hat sich dieses System bisher nur in Österreich, Deutschland und der Schweiz durchgesetzt. Sehen Sie darin eventuell auch ein Modell für die ungarische Wirtschaft?
Ja, auf jeden Fall. Das ist ein großartiges und wirksames Modell und auch Ungarn will davon profitieren. Das duale System hat sich erfolgreich in Österreich, Deutschland und in der Schweiz etabliert. Wir haben nach diesen Erfahrungen ein eigenes duales Ausbildungssystem entwickelt und es ist dem österreichischen Modell sehr ähnlich. Ungarische Experten hatten das österreichische Modell über einen langen Zeitraum analysiert, auch im Rahmen von Studienreisen gemeinsam mit der Wirtschaftskammer Österreich. Unsere Entscheidungsträger konnten dadurch das österreichische System besser verstehen lernen. Das neue ungarische Ausbildungsgesetz ist im Jahr 2019 in Kraft getreten, unser duales Ausbildungssystem basiert nun größtenteils auf dem österreichischen. In den Grenzregionen haben wir sogar Arbeitsgruppen installiert, um konkrete gemeinsame Projekte vorzubereiten. Es gibt auch mehr und mehr österreichische Tochterfirmen in Ungarn, die im Rahmen der dualen Ausbildung ungarische Lehrlinge aufnehmen.
Wie sehen Sie die Entwicklung der Bauwirtschaft in den nächsten Jahren und welche Auswirkungen wird Ihrer Einschätzung nach die Coronakrise auf die Bautätigkeit in Ungarn haben? Experten erwarten „klamme Kassen“ im öffentlichen Haushalt. Gibt es in Ungarn investitionsfördernde Unterstützungsmaßnahmen für Regionen und Kommunen, wie wir sie in Österreich kennen?
Die Bauwirtschaft boomt, Gott sei Dank, trotz Covid-19. Die wichtigsten Bauförderungen in Ungarn richten sich aber nicht an Regionen oder Kommunen, wie in Österreich. Eine der allerwichtigsten Förderungen ist die sogenannte CSOK. Das ist eine nicht rückzahlbare Förderung für Familien. Im Höchstfall kann eine Fördersumme von 28 000 Euro und zusätzlich ein Kredit von maximal 42 000 Euro mit einem geförderten Zinssatz ausbezahlt werden. Die Förderung kann für den Bau eines Hauses oder für den Ankauf einer Neubauwohnung verwendet werden. Zudem wurde die Mehrwertsteuer auf Neubauhäuser vorerst befristet auf nur fünf Prozent gesenkt, womit auch Familiengründungen unterstützt werden. Auch Renovierungen werden gefördert. Grundsätzlich investiert die Regierung in Wirtschaft und Beschäftigung, anstatt Arbeitslosigkeit zu subventionieren. Davon profitiert natürlich auch die Bauwirtschaft. So konnte Ungarns Wirtschaft im ersten Quartal 2021 mit 1,9 Prozent das höchste Wirtschaftswachstum in der Europäischen Union verzeichnen, wozu die positive Entwicklung der Bauindustrie wesentlich beigetragen hat.
Der Budapester Immobilienmarkt gilt als einer der dynamischsten in Europa. Die Wohnungspreise in Ungarn stiegen (vor Corona) jährlich im zweistelligen Prozentbereich. Die Beratungsfirma Deloitte analysierte Ende 2019, dass eine Wohnung in Ungarn durchschnittlich nur halb so viel kostet wie in Deutschland. Allerdings verfügen die Ungarn auch über wesentlich niedrigere Einkommen. Eine Siebzig-Quadratmeter-Wohnung kostet sie laut Deloitte im Schnitt knapp acht Bruttojahreseinkommen, in Deutschland genügen gut fünf. Gibt es in Ungarn – ähnlich wie bereits in Deutschland und Österreich – Debatten über leistbaren Wohnraum oder entsprechende Initiativen der Regierung, um einem Mangel an leistbarem Wohnraum entgegenzuwirken?
Die Struktur des Immobilienmarktes in Ungarn unterschiedet sich von jener in Österreich oder eben in Deutschland. In Budapest befinden sich beispielsweise mehr als siebzig Prozent der Wohnungen in Privateigentum, der Rest sind Mietwohnungen. Dieser hohe Anteil von Eigentumswohnungen geht noch auf die kommunistischen Zeiten beziehungsweise auf die Wendezeit zurück. Dadurch, dass Privateigentum im Kommunismus nicht gestattet war, haben viele nach der Wende ihre Sozialwohnungen kaufen können. Zur Freiheit hat es gehört, dass viele endlich mal ein Auto oder sogar eine eigene Wohnung kaufen konnten. Ungarn hat im Gegensatz zu Österreich kein föderales, sondern ein zentralisiertes Staatssystem. Daher werden Maßnahmen zur wirtschaftlichen Entwicklung eher zentral als regional eingeführt. Die Wohnungspreise sind natürlich auch durch die massiven Fördersummen hochgetrieben worden, vor allem in der Hauptstadt Budapest oder in den Großstädten. Eine Familie mit vier Kindern kann sich für eine Förderung von insgesamt 70 000 Euro bewerben, mit sehr günstigen Zinsen dazu. Aktuell stellt auch die enorme Steigerung der Baustoffpreise ein Problem dar. Die stetige und eigentlich erfreuliche Erhöhung der Löhne in der Baubranche führte auch zur Erhöhung der Baupreise. Leistbarer Wohnraum ist daher auch bei uns ein bedeutendes Thema.
Im Auftrag der BKV Zrt. (Budapester Verkehrsbetriebe) ist SWIETELSKY an der Sanierung der Metrolinie M3 führend beteiligt. Welche Bedeutung hat dieses Projekt für die Hauptstadtinfrastruktur?
Budapest hat insgesamt vier Metrolinien. Die M3 verläuft von Nord-Nordost nach Südost und verbindet mehrere bevölkerungsreiche Randbezirke mit dem Zentrum. Mit ihren zwanzig Stationen fährt sie über wichtige Knotenpunkte der Hauptstadt. Sie ist die längste U-Bahn-Linie in Budapest, ihre Sanierung hat daher eine sehr große Bedeutung. Die sogenannte „Blaue Metrolinie“ entlastet den Stadtverkehr enorm. Sie wurde zwischen 1976 und 1990 errichtet, es war also höchste Zeit, mit der Sanierung zu beginnen. Aktuell handelt es sich um das wohl bedeutendste Infrastrukturprojekt in Budapest. Ursprünglich war die Linie für 800 000 Fahrten täglich ausgelegt, man kann also ahnen, wie wichtig dieses Projekt ist.
SWIETELSKY ist als Konzern mittlerweile in allen Sparten der Bauwirtschaft tätig, wenngleich seine Ursprünge im Straßenbau liegen. Wie beurteilen Sie den Zustand der öffentlichen (Straßen-) Infrastruktur in Ungarn und deren Entwicklungspotenzial für die nächsten zehn Jahre?
Die Qualität der öffentlichen Straßeninfrastruktur in Ungarn kann man noch nicht mit jener von Österreich vergleichen. Die Regierung stellte letzten Dezember weitere 82 Milliarden Forint für den Ausbau des Schnell- und Hauptstraßennetzes zur Verfügung, womit 74 neue Straßenbauprojekte starten können. Ich gehe davon aus, dass es noch viele weitere Bauprojekte geben wird, es ist also auf jeden Fall ein Entwicklungspotenzial da!
Herr Botschafter, vielen Dank für das Gespräch!
SWIETELSKY in Ungarn
Rund 300 Millionen Euro Bauleistung erwirtschaften die etwas mehr als 1000 Mitarbeiter, davon 35 Prozent im Hoch- und Tiefbau, weitere 35 Prozent im Straßen- und Brückenbau sowie 30 Prozent im Bahnbau. Besonders stolz ist das Unternehmen auf zahlreiche bedeutende Referenzprojekte in der Hauptstadt Budapest, wie die Renovierung des Burggarten-Basars oder die Neubauten für die Deutsche Schule, das Hard Rock Hotel oder die Bürogebäude GTC White House und Ecodome. Im U-Bahnbau setzte man 2006 bis 2014 Akzente beim Neubau der Linie M4 und ist heute führend beteiligt beim Megaprojekt M3. Aber nicht nur unterirdisch arbeitet SWIETELSKY an der Modernisierung der staatlichen Infrastruktur, sondern auch auf den Autobahnen, Bundesstraßen sowie in der Umwelttechnik. Heute sei man gut im Geschäft, „weil wir nie versucht haben, ein österreichisches Unternehmen in Ungarn aufzubauen, sondern ein ungarisches Unternehmen dabei unterstützen wollten, sich eigenständig zu entwickeln“, meint SWIETELSKY-Auslandsvorstand Harald Gindl. Mit Arpad Bognar, Zoltan Hegyi, Szabolcs Vingelmann und Tihamér Vadkerti-Tóth ist das Management so ungarisch wie die gesamte Belegschaft. „Wir haben über die Jahre gut gelernt auf Augenhöhe zusammenzuarbeiten und uns wechselseitig mit Knowhow zu unterstützen, wovon der gesamte Konzern profitiert“, so Gindl.