Im Tiroler Kühtai wird rund eine Milliarde Euro in die umliegenden Berge gebaut, um dort saubere und sichere Energie zu produzieren, wann immer man sie braucht.
Energie ist Leben. Rund um die Uhr verlassen wir uns auf ihre Verfügbarkeit. Wir stellen aber noch viel mehr Ansprüche. Sie muss sauberen Ursprungs sein sowie nachhaltig, umweltfreundlich und sozial verträglich gewonnen werden. Um langfristig von fossilen Energieträgern unabhängig zu werden, müssen wir unseren Energiebedarf zur Gänze aus erneuerbaren Ressourcen wie Wasser, Wind, Sonne oder Biomasse gewinnen. Ob und wie schnell uns das gelingt, wird vor dem Hintergrund der Klimaerwärmung zur Schicksalsfrage der Menschheit. Die TIWAG, das größte Energieversorgungsunternehmen Tirols, produziert schon heute CO2-freien Strom aus heimischer Wasserkraft. Das ist in dem westlichen Bundesland Österreichs dank seiner Berge, Bäche und Flüsse umfassend möglich. Um die österreichischen Klimaziele zu erreichen, müssen dennoch weitere Wasserkraftwerke errichtet werden. Nur so kann bis 2030 der Gesamtstromverbrauch aus erneuerbaren Energien gewonnen und bis 2050 der Gesamtenergieaufwand mit erneuerbaren Energien gedeckt werden.
„Grüne Batterie“ im Berg
Hier kommt das Erweiterungsprojekt Kühtai ins Spiel. Die bereits bestehende Kraftwerksgruppe Sellrain-Silz mit einer herkömmlichen Leistung von 531 Millionen Kilowattstunden sauberem Strom wird um einen weiteren Speichersee und ein Pumpspeicherkraftwerk ausgebaut und kann somit um etwa vierzig Prozent mehr Grünstrom produzieren. Mit der erweiterten Anlage kann nicht nur der steigende Bedarf effizienter abgedeckt, sondern auch entscheidend zur Stabilität des europäischen Stromnetzes beigetragen werden. Denn bei wetterbedingten Schwankungen von Wind und Sonnenstrom kann die Kraftwerksgruppe sehr schnell und flexibel den benötigten Strom erzeugen. Ist zu viel Strom im Netz, können diese Überschüsse verwendet werden, um Wasser in den Speichersee zu pumpen und für eine spätere Nutzung vorrätig zu haben. Kein Bauvorhaben dieser Größenordnung kann ohne Eingriff in die Natur verwirklicht werden. Daher wurde das Projekt lange geplant, umfangreich behördlich geprüft und in seiner Umweltverträglichkeit bestätigt. Es nutzt dabei viele Standortvorteile. Wichtige Infrastruktur wie Straßen und Stromleitungen sind bereits vorhanden und das Material für den Damm wird vor Ort gewonnen. Eine Vielzahl von Ausgleichsmaßnahmen sichert den Lebensraum für Flora, Fauna und den Menschen. Zudem werden am Inn und an der Ötztaler Ache Gewässerabschnitte renaturiert und ökologisch aufgewertet.
Megabau im Hochgebirge
Die Bietergemeinschaft Swietelsky Tunnelbau – Swietelsky – Jäger – Bodner erhielt den Zuschlag für das Hauptbaulos des Ausbauprojekts im Kühtai. Das Auftragsvolumen beträgt rund 425 Millionen Euro netto, insgesamt investiert die TIWAG am Standort die monumentale Summe von mehr als einer Milliarde Euro. Im Wesentlichen umfasst die Baumaßnahme die Beileitung mehrerer Bäche aus dem hinteren Stubaital und mittleren Ötztal, die Errichtung des Speichers Kühtai im hinteren Längental und den Bau eines unterirdischen Pumpspeicherkraftwerks „Kühtai 2“ zwischen neuem Speicher Kühtai und dem bestehenden Speicher Finstertal. Gebaut wird seit April 2021 für etwa fünf Jahre. Das klingt vorerst nach Routine. Die Komplexität wird auf den zweiten Blick sichtbar. 25 Kilometer Stollen werden im kontinuierlichen Vortrieb mittels Tunnelbohrmaschine bewältigt, 7,9 Kilometer im konventionellen Vortrieb bei einem Gefälle von bis zu achtzig Prozent. Für den neuen Speichersee wird ein Naturschüttdamm mit einem Volumen von 6,9 Millionen Kubikmetern, einer Kronenlänge von 510 Metern und einer Dammhöhe von 113 Metern errichtet. Das Projektgebiet liegt circa 2000 Meter über dem Meeresspiegel und circa dreißig Kilometer westlich von Innsbruck.
Vielseitige Baustelleninfrastruktur
„Eine Baustelle dieser Größenordnung geht in ihren Dimensionen weit über das normale Maß hinaus. Sei es durch die Größe und Anzahl der Baumaschinen oder durch den zeitgleichen Einsatz von bis zu 450 Arbeiterinnen und Arbeitern“, erklärt SWIETELSKY-Projektleiter Peter Wetzlinger. Da das Projekt im Hochgebirge liege, würde schon die Anlieferung für Logistikexperten und -expertinnen zu einer erheblichen Herausforderung. Eine gut geplante Baustelleninfrastruktur ist für den reibungslosen Bauablauf und die Versorgung der Menschen vor Ort von enormer Bedeutung. Mit speziellen Materialaufbereitungsanlagen und einer Betonmischanlage werden die wichtigsten Baustoffe vor Ort gewonnen und hergestellt. Auch eigene Werkstatt, Magazin- und Fertigungshallen sind zentrale Teile der Infrastruktur. Bei den Bauarbeiten anfallendes Wasser wird durch eine Gewässerschutzanlage wieder gereinigt. Ebenso wichtig ist die Versorgung der arbeitenden Menschen. 2021 entstand daher im Kühtai ein Dorf aus zahlreichen Containern. Neben dem Baubüro gibt es auch etliche Hundert Wohneinheiten sowie eine komplett ausgestattete Kantine. Geachtet wird darin auf eine gesunde Kost aus regionaler Herstellung.
Im Kern wasserdicht
Das zentrale – und schlussendlich auch das am besten sichtbare – Element des Erweiterungsprojekts bildet der neue Speichersee Kühtai, der in erster Linie durch den Bau eines Schüttdammes gebildet wird. Eigentlich würde man glauben, dass ein Dammbauwerk mit einem Volumen von 6,9 Millionen Kubikmetern, einer Höhe von 113 Metern und einer Breite von 510 Metern weithin sichtbar und als solches erkennbar sein müsste. Nicht in diesem Fall, denn der Damm wird zur Gänze aus Schüttmaterialien gebildet, die wie der Tunnelausbruch im Zuge des Baugeschehens anfallen oder direkt vor Ort gewonnen werden. Bevor der Damm in die Höhe wächst, musste erst einmal „nach unten“ gearbeitet werden: Für einen dichten Anschluss des innenliegenden Dichtkernes an den Untergrund musste im Kernbereich zunächst der Felsen freigelegt und mit Injektionen abgedichtet werden. Dafür waren bis zu 35 Meter tiefe Lockergesteinsüberlagerungen auszuheben. Ab dem Sommer 2022 wurde mit dem schichtweisen Aufbau des Damms begonnen. Auf der freigelegten, gereinigten und abgedichteten Felsoberfläche wird dafür dichtes, mineralisches Erdmaterial aufgebracht. „Die Qualität wird dabei laufend von der Bauaufsicht und den Spezialisten/Spezialistinnen der TIQU (Tiroler Qualitätszentrum für Umwelt, Bau und Rohstoffe) geprüft“, versichert Peter Wetzlinger. Der Dichtkern ist am Anschluss zum Felsuntergrund circa vierzig Meter breit, er wird in den nächsten Jahren parallel mit dem Stützkörper in die Höhe bis zur Dammkrone wachsen, wo er dann immer noch eine Breite von fünf Metern aufweisen wird. Bis 2025 soll das natürliche Dammbauwerk fertiggestellt sein.
Perfektionierte Weiterverwertung
Um mit der erweiterten Kraftwerkgruppe künftig mehr erneuerbaren Strom erzeugen zu können, wird Wasser aus dem Stubai- und dem Ötztal in den neuen Speicher Kühtai geleitet. Das Wasser wird dabei an insgesamt sechs Wasserfassungen in ökologisch vertretbaren Mengen eingezogen (im Winter gar nicht) und über einen rund 25Kilometer langen Stollen zum Speicher Kühtai geführt. Dieser Beileitungsstollen hat einen Durchmesser von 4,2 Metern und wird mit einer Tunnelbohrmaschine (TBM) ausgebrochen, die sich vom Kühtai aus bis ins hintere Stubaital in einem Stück vorarbeitet. Die Versorgung der TBM erfolgt vollständig vom Kühtai aus. „Das gesamte Ausbruchsmaterial wird mittels Förderbändern ins Kühtai abtransportiert und auf der Hauptbaustelle weiterverwertet. Damit können große Baustelleneinrichtungsflächen außerhalb vom Längental vermieden werden. Zugleich braucht es auch keine Deponien für das Tunnelausbruchmaterial“, zeigt sich Projektleiter Peter Wetzlinger von diesen und weiteren positiven Aspekten des Projekts in Bezug auf die Umweltverträglichkeit überzeug
Achthundert Tonnen am Werk
Die speziell für den Vortrieb im Beileitungsstollen angefertigte Tunnelbohrmaschine mit Namen Alesja erreicht mit Nachläufern (das sind die zugehörigen Antriebe, Steuerungs- und Fertigungseinrichtungen) eine Länge von 334Metern und ein Gewicht von achthundert Tonnen. SWIETELSKY-Bautechniker Armin Rainer schildert das Funktionsprinzip: „Zum Ausbrechen des anstehenden Felses dreht sich der Bohrkopf mit einer Geschwindigkeit von bis zu zehn Umdrehungen pro Minute. Zugleich wird er mit einer Anpresskraft von siebenhundert Tonnen nach vorne gedrückt. Die Kombination aus Drehbewegung und Anpresskraft lässt an den am Bohrkopf montierten 29 Schneidrollen kleine, circa handgroße Stücke aus dem Fels brechen.“ Die Vortriebsmannschaft könne sich so bis zu sechzig Meter pro Tag durch den Berg arbeiten. Der rund 25Kilometer lange Vortrieb des Beileitungsstollens wird abhängig von den geologischen Verhältnissen insgesamt circa drei bis vier Jahre dauern.
Großgeräte im Einsatz
Eine besondere Baustelle wie im Kühtai erfordert besondere Gerätschaften und Fahrzeuge. Durch die Allianz – also jenes Baufirmenkonsortium, das das Erweiterungsprojekt realisiert – wurden verschiedene Großfahrzeuge angeschafft, die hinsichtlich ihrer Dimensionen und Leistungsfähigkeit weit über übliche Baufahrzeugmaße hinausreichen. Für die notwendigen Abtragsarbeiten und Materialtransporte werden Baumaschinen eingesetzt, die Höhen von über fünf Metern oder Breiten von fast acht Metern erreichen. Der Vorteil dieser speziellen Großgeräte liegt in ihrer hohen Effizienz: Ein Muldenkipper beispielsweise, der pro Ladung rund einhundert Tonnen Material transportieren kann, erledigt die Arbeit vergleichsweise schneller, günstiger und aufgrund des in Summe geringeren Spritverbrauchs umweltfreundlicher als drei oder mehr kleinere Fahrzeuge an seiner Stelle. Im Vergleich dazu kann ein herkömmlicher Vierachs-Lkw bis zu sechzehn Tonnen laden.
Das Pumpspeicherkraftwerk Kühtai 2
All der Aufwand, seien es die komplexe Baustellenlogistik, der neue Speichersee mit seinem Naturschüttdamm oder die Stollenbauwerke zur Beileitung von Wasser, dienen letztlich dem Herzstück der Anlage, dem Kraftwerk Kühtai 2. Samt seinem Triebwasserweg wird es die Speicher Finstertal und Kühtai verbinden. Die hierfür ausgebrochene Kaverne befindet sich in einer Tiefe von 174 Metern unter der Oberfläche. Dort werden die notwendigen maschinellen und elektrotechnischen Anlagen untergebracht. Das Kraftwerk ist für kombinierten Turbinen- und Pumpbetrieb ausgelegt. Dabei fließen bis zu neunzig Kubikmeter Wasser pro Sekunde durch die beiden Maschinensätze. Verbindungen nach außen hat die Kaverne über einen Zufahrts- und einen Entwässerungsstollen. Im Gelände sind nur die Portale dieser beiden Stollen sichtbar. Bis zur Fertigstellung 2025 wird es noch zahlreiche Aspekte dieses Projektes in unserem Magazin zu bestaunen geben. „Zweifellos handelt es sich um ein Projekt, das selbst die besten europäischen Baudienstleister/innen und Tunnelbauspezialisten sowie -spezialistinnen vor einzigartige Herausforderungen stellt“, weiß Wolfgang Pacher, Geschäftsführer von SWIETELSKY-Tunnelbau. „Die Erfahrungen dabei machen uns täglich stärker und wappnen uns für weitere vergleichbare Herausforderungen“, so Pacher. Derer wird es jedenfalls noch viele geben, denn die Energiewende muss – um zu gelingen – entscheidend beschleunigt werden, sind sich Expertinnen und Experten einig.
Weitere Reportagen zum Kraftwerksprojekt im Kühtai:
Auch für die Vorbereitungsarbeiten zum Hauptbaulos war ein Unternehmen der SWIETELSKY-Gruppe engagiert. Die Spezialtiefbauer der HTB errichteten Anlagen zum Schutz vor Naturgefahren und waren dabei selbst so einigen ausgesetzt. Lesen sie hier.
Lesen Sie hier eine Reportage zu den Maschinen-Giganten im Kühtai. Von der Beschaffung über die Ausrüstung bis hin zur Logistik: Wie sechzehn Cat-Großgeräte zur SWIETELSKY-Baustelle im Kühtai auf knapp zweitausend Höhenmeter gelangen.
Warum die TIWAG beim Kraftwerksprojekt Kühtai auf das innovative Allianzmodell setzt und wie das Vergabeverfahren zum Erfolg geführt wurde, lesen Sie hier.
Das Erweiterungsprojekt Kühtai in Zahlen
- Genehmigungsantrag: 2009
- Genehmigung (Bundesverwaltungsgericht): 2019
- Baubeginn: 2020
- Inbetriebnahme: 2026
- Speichervolumen: Erhöhung um 50% bzw. 31 Millionen Kubikmeter
- Mehrerzeugung an Strom: 216 GWh/Jahr (bisher 531 GWh)
- Investition: ca. eine Milliarde Euro
- Effekt: weitere Steigerung der Flexibilität der Stromerzeugung sowie der Versorgungssicherheit